Aufgrund der verbesserten Überlebenschancen Frühgeborener müssen sich die medizinischen Anstrengungen umso stärker auch darauf konzentrieren, den Überlebenden eine möglichst gute Lebensqualität zu gewährleisten. Dafür ist es entscheidend, die Kinder zum einen vor Komplikationen zu schützen und zum anderen den Aufbau einer guten Eltern-Kind-Bindung zu fördern. Für beides kommt der Muttermilchernährung und Stillen eine zentrale Rolle zu.
Doch Frauenmilch ist nicht gleich Frauenmilch: Die Milch von Müttern frühgeborener Kinder weist einen anderen Nährstoffgehalt auf als die von Müttern reif geborener Babys, der dem erhöhten Bedarf, dem unreifen Immunsystem und der noch unvollständigen mukosalen Barrierefunktion des funktionell unreifen Gastrointestinaltraktes der sehr unreifen Kinder besser gerecht wird: Sie enthält mehr Wachstumsfaktoren, Hormone, antiinflammatorische Faktoren und Immunglobuline. Entsprechend positiv ist der Effekt der Muttermilch, der dosisabhängig in Erscheinung tritt: Je höher der Anteil humaner Milch in der Ernährung in den ersten Lebenstagen, desto seltener erkranken die Kinder an nekrotisierender Enterokolitis (NEC) oder Sepsis, und auch das Risiko für bronchopulmonale Dysplasie (BPD) und Frühgeborenen-Retinopathie (ROP) sinkt. Werden Frühgeborene auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiter mit Muttermilch ernährt, erkranken sie während des ersten Lebensjahres seltener an Atemwegsinfekten. Damit ist der Benefit jedoch noch längst nicht erschöpft – er reicht bis ins Erwachsenenalter hinein: So punktet die Muttermilch mit einer höheren Knochenmasse und -mineralisierung, mehr grauer Substanz im Bereich der Basalganglien und des Thalamus und einem höheren IQ, besseren motorischen und mathematischen Leistungen und einem leistungsfähigeren Arbeitsgedächtnis im Vergleich zu ehemaligen Frühgeborenen, die ausschließlich Formula-Milch erhalten hatten.
Es gibt jedoch ein paar Haken: Einer ist der hohe Nährstoffbedarf von sehr unreifen Frühgeborenen. Da ihre Wachstumsrate etwa doppelt so hoch ist wie die reifgeborener Kinder, benötigen sie eine entsprechend hohe Energie- und Proteinzufuhr. Internationale Leitlinien empfehlen für Frühgeborene < 1.000 Gramm eine Eiweißzufuhr von 4 – 4,5 g/kg/d, für Frühgeborene bis 1.800 Gramm von 3,5 – 4 g/kg/d und sehen den Energiebedarf für diese Kinder bei 110 – 135 kcal/kg/d. Dieser Bedarf ist mit Muttermilch alleine nicht zu decken, daher sollte sie mit entsprechenden Nährstoffen angereichert werden.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass mehr als die Hälfte aller Mütter bis zum Zeitpunkt der Geburt eine Zytomegalievirus (CMV)-Infektion durchgemacht haben. Postpartal kann es zu einer Virusreaktivierung kommen, während der es fast immer zum Übertritt pathogener Viren in die Muttermilch kommt. Für Frühgeborene stellt eine CMV-Infektion eine erhebliche Gefährdung dar – etwa 12 % entwickeln sepsisartige Verläufe. Daher wird mancherorts die Hitzebehandlung der Muttermilch zur Abtötung der Keime empfohlen – eine Hocherhitzungspasteurisierung für 5 Sekunden bei 72°C verhindert die Virusübertragung zuverlässig, während viele wichtige Muttermilchbestandteile erhalten bleiben. Im Gegensatz dazu wird durch Einfrieren der Muttermilch keine 100 %-ige Viruselimination erreicht.
Unabhängig davon ist längst nicht jede Mutter in der Lage, ausreichend Muttermilch für die Ernährung ihres Kindes abzupumpen – viele schaffen es nicht, die Laktation aufrecht zu erhalten bis sie ihr Kind direkt stillen können. Wichtig sind daher eine professionelle Still- und Laktationsberatung sowie stillfördende Umgebungsbedingungen – dazu gehören viel Haut-zu-Haut-Kontakt im Rahmen der Känguru-Methode und Rooming-in mit engem Kontakt zwischen Mutter und Kind.
Reicht die Muttermilch trotz aller Bemühungen nicht aus, kann Spendermilch aus einer Frauenbank eine gute Alternative sein. Doch derzeit gibt es in Deutschland leider keine flächendeckende Versorgung mit gespendeter Frauenmilch – hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Referenz dieses Absatzes: Gebauer C, Klotz D, Springer S. Der Stellenwert von Muttermilch für die gesunde Entwicklung Frühgeborener – aktuelle Übersicht und praktische Aspekte Bundesgesundheitsbl 2018; 61: 952–9